Ann-Kathrin Scheerer: Sigmund Freud - ein Porträt zu seinem 150. Geburtstag

Wenige haben unser Menschenbild so fundamental verändert wie Sigmund Freud. Nicht mehr gottgewolltes Schicksal oder biologischer Instinkt - nein: Konflikte beherrschen uns, solche zwischen Sexualität und Schuldgefühl, Aggression und Strafangst, Phantasie und Realität, Libido und Frustration, Triebhaftigkeit und Kulturanspruch, Wille und Hemmung. Unsterbliche Kinderwünsche begleiten und bestimmen uns lebenslang, und es ist deren individuelles Schicksal, das den Menschen zufrieden, krank oder böse machen kann. Glücklich zu sein, schrieb Freud, ist im Plan der Schöpfung für den Menschen nicht vorgesehen, und obwohl jede seelische Anstrengung dem Streben nach Lust dient, ist Glück ein bloß episodisches Phänomen, das nur im Kontrast zum Leiden genießbar ist. Freud hat nicht das Unbewußte entdeckt, von den verdunkelten Bühnen unserer Seele weiß die Literatur und Philosophie seit der Antike. Was Freud zum einzigartigen Denker des 20. Jahrhunderts macht, ist seine Systematisierung des Zugangs zum Unbewußten und die Entwicklung einer Verstehens- und Heilmethode auf dieser Grundlage: der Psychoanalyse. Skandalös und subversiv erschien vielen seine Entdeckung, daß der Mensch von allem Anfang an ein triebhaftes, sexuelles Wesen sei mit Neugier und Forscherdrang, mit vielen Möglichkeiten der Lustgewinnung aus den noch nicht zur erwachsenen Genitalität integrierten, "polymorph-perversen" Teilaspekten der Sexualität (ein Mensch, so Freud, werde nicht im Laufe der Entwicklung pervers, er bleibe es aufgrund von neurotischen Entwicklungshemmungen.) Die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds führe zu infantilen Sexualtheorien, zu Kastrationsangst und Penisneid. 


Freud bewies uns die Unsterblichkeit der infantilen Sehnsüchte durch die von ihm begründete Methode der Traumdeutung, dem Königsweg zum Unbewußten: in den Träumen tauchen die verbotenen Wünsche in verschleierter Form wieder auf, der mit ihnen verbundene peinliche Affekt erforderte einstmals ihre Verdrängung, aber sie fordern ihr Recht auf Anerkennung - das Verdrängte will wiederkehren, es gibt sich nicht verloren. Es geht um diese subjektive Wahrheit, die sich in Krankheitssymptomen einen kompromißhaften und leidvollen Ausdruck gesucht hat. Es ist die verschüttete Wahrheit und deren Wiederaufdeckung, die neurotischen Leidensdruck in normales lebbares Unglück verwandelt. Freud systematisierte das Unbewußte, indem er seine Funktionsweisen entdeckte. Die Psychoanalyse nannte er eine weltliche Seelsorge. Traumdeutung und Selbstanalyse waren die Wege, auf denen er uns das theoretische und methodische Handwerkszeug für die bis heute humanste und nachhaltigste Form der Behandlung seelischen Leidens hinterließ, an der das schmerzhafteste die Selbsterkenntnis ist. Wir verdanken Freud die Einsicht, daß es keinen anderen Trost gibt als die Anerkennung von Realität und Wahrheit. Sein eigenes Leben war - neben seiner epochemachenden Arbeit - reich an Krankheit, Schmerzen und Leid. 

Zur Beerdigung seiner Mutter, die 95-jährig gestorben war, ging Freud nicht. Er war selber bereits ein alter Mann von 74 Jahren, - er schickte Tochter Anna - aber hinter dieser unkonventionellen Verweigerung mag doch mehr stecken. "Es hat merkwürdig auf mich gewirkt, dies große Ereignis. Kein Schmerz, keine Trauer, was sich wahrscheinlich aus den Nebenumständen, dem hohen Alter, dem Mitleid mit ihrer Hilflosigkeit am Ende, erklärt, dabei ein Gefühl der Befreiung, der Losgesprochenheit, das ich ja auch zu verstehen glaube. Ich durfte ja nicht sterben, solange sie am Leben war, und jetzt darf ich." 
Seine Mutter Amalie hatte von ihrem Großen, dem erstgeborenen Sigismund Schlomo - mit 16 Jahren verkürzte Freud seinen Vornamen auf Sigmund - stets etwas Großes erwartet, und Freuds Fleiß und Entdeckerfreude motivierte sich womöglich auch aus dem Wunsch, die Mutter mit seinem Lebenswerk endlich zufrieden zu stellen. Viel exklusive zärtliche Zuwendung wird er als kleines Kind nicht von ihr bekommen haben, denn die Mutter erwartete in jedem der folgenden sieben Jahre ein weiteres Kind. Und nicht nur das: der nächstgeborene Bruder Julius starb noch als Säugling und später deutet Freud selbst die Schuldgefühle, die für ihn mit dem Tod des zu früh eintreffenden Rivalen verbunden waren. Die Mutter trauerte zu der Zeit auch um ihren verstorbenen eigenen Bruder, so daß Sigmunds affektiver Zugang zur Mutter durch deren Traurigkeit und Depression verstellt gewesen sein mögen. Sicher waren all diese Umstände gerade auch für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich, aber - Freuds eigenen Entdeckungen folgend - in jedem Einzelfall psychisch dennoch folgenreich. In der Selbstanalyse fand Freud die Spuren seines Zorns auf die Mutter, die sich mit anderen Babies beschäftigt. Zu früh schon "der Große" sein zu müssen, hinterläßt eine wütende Enttäuschung, die man in Freuds Leben im Umgang mit "Brüdern" übrigens wiederfindet: seine Anhänger bewunderten ihn, eiferten ihm nach, durften seine Schüler sein, streckenweise auch seine idealisierten Freunde, aber sobald sie gleichberechtigte "Brüder" werden wollten, starben sie in Freud den seelischen Rivalentod. (Gleichwohl gibt ihm die Geschichte der Psychoanalyse durchaus darin recht, daß seine Entdeckungen immer wieder Gefahr laufen verleugnet, verneint, verharmlost zu werden. Dem Verdrängungswunsch ist auch die psychoanalytische Theorie immer wieder ausgesetzt.) Die wechselseitige Idealisierung zwischen Freud und seiner Mutter war gewiß gut geeignet, Enttäuschung und Zorn abzuwehren, und die Entfremdung zwischen beiden zu verleugnen. Freud, der lebenslang Todesangst und zwanghafte Todesahnungen hatte, litt unter dem Gefühl, für seine Mutter leben und streben zu müssen. Ihre Beziehung war konventionell und ritualisiert, jeden Sonntag besuchte er sie. Das letzte Ritual verweigerte er.

Der "goldene Sigi" sollte für die Mutter vielleicht auch wettmachen, was Freuds Vater Jakob nicht geschafft hatte: Erfolg und Ansehen. Er war ein armer jüdischer Kaufmann, zwanzig Jahre älter als seine dritte Ehefrau, die so alt war wie seine Söhne aus erster Ehe, die in den ersten Lebensjahren Freuds, schon mit eigenen Kindern, in familiärer Nähe lebten. Freud war also früh im Leben mit verwirrenden Verwandtschafts- und Generationenverhältnissen konfrontiert, auch mit irritierenden affektiven Anziehungen zwischen seiner Mutter und seinen erwachsenen Halbbrüdern. Die Errichtung des Inzesttabus und seine Verletzungen wurden in seinem Theoriegebäude zu einer zentralen und potentiell traumatischen Entwicklungsschwelle.

Als kleiner Junge hörte Freud von seinem Vater die Geschichte von dessen Demütigung: in einer antisemitischen Attacke auf offener Straße war dem Vater die Mütze vom Kopf geschlagen worden, nachdem er vom Bürgersteig gedrängt worden war. "Was hast du dann getan?" fragte Freud seinen Vater und der habe geantwortet: ich hob die Mütze auf, klopfte sie ab und ging weiter. Diese Erzählung enthält in prägnanter Kürze die Inhalte weiterer konflikthafter Lebens- und Forschungsthemen Freuds. Obgleich er nie religiös war, fühlte er sich als "in der Hauptsache" Jude, auch, aber nicht nur wegen des ihn und seine Familie lebenslang begleitenden und bedrohenden Antisemitismus. Mit seinem jüdischen Erbe verband er das Ziel der Geistigkeit, der Sublimierung der Triebwünsche. Sein Vater, so schrieb er nach dessen Tod, sei "von großer Weisheit" gewesen, auch wenn dem Jungen der Vater als Rächer und Held gefehlt hat. Freud hatte in seiner Selbsterforschung und in der Arbeit mit Patienten das Bedürfnis des kleinen Jungen entdeckt, sich mit dem Vater als heldenhaftem Vorbild identifizieren zu können, nachdem er ihn zuvor in dem unsterblichen Kinderwunsch, der Einzige für die Mutter zu sein, noch weggewünscht hatte. Die antisemitische Wirklichkeit, die den Vater sehr real wegwünschte und erniedrigte, machte es Freud schwer, den individuellen, von ihm später so genannten Ödipus-Konflikt zu durchleben, an dessen gutem Ende die Anerkennung steht, daß die Eltern das Paar sind, von dem das Kind in Geborgenheit und realistischer Freiheit von Idealisierungen ausgeschlossen ist. Freud hat sich stets ein Idealisierungsbedürfnis bewahrt, dessen Kehrseite die emotionale Distanz sein mußte. Nach dem Tod seines Vaters, der "sich wacker gehalten (hatte) bis zum Ende" fühlte er sich "recht entwurzelt" und war fast erstaunt über seine emotionale "Ergriffenheit".

Eine weitere Gefühlserschütterung hatte Freud in der Kindheit zu bewältigen. Seine Kinderfrau Monika, die in seinen ersten drei Lebensjahren als Ersatz für seine mit den anderen Kindern vielbeschäftigte Mutter seine wichtigste Bezugsperson war, wurde von einem Tag auf den anderen mit dem Vorwurf aus dem Haus gejagt, sie habe einige Dinge aus dem Besitz des Kindes, die man in ihrem Zimmer gefunden hatte, gestohlen. Sie kam deshalb sogar für drei Wochen ins Gefängnis. Der plötzliche Verlust seiner emotionalen Stütze, gepaart mit Schuldgefühlen - wer weiß, ob die "gestohlenen" Dinge nicht Liebesgaben des kleinen Sigmund an seine Kinderfrau gewesen waren -, die Skandalisierung und Bestrafung seiner Liebe - all das hat sicherlich überwältigend beängstigend auf den Dreijährigen gewirkt, zumal er keinen Ersatz fand, außer die distanzierte Idealisierung seiner Mutter. Bis heute werden die Auswirkungen solch einer doppelten Bemutterung in der frühen Kindheit - sei es durch Kinderfrau oder Kinderkrippe - und des zwangsläufig eintretenden Verlusts einer dieser Mütter(funktionen) trotz brennender Aktualität nicht ausreichend beachtet. Für Freuds eigenes Denken war seine klinische Beobachtung zentral, daß so viele Männer Schwierigkeiten haben, in ihrem erwachsenen Liebesleben die früh getrennten zärtlichen (idealisierenden) und sinnlichen (sexuellen) Bedürfnisse in einem befriedigenden Liebesleben mit einer Frau - mit einer Frau - wieder zusammenzuführen. Wo sie lieben, begehren sie nicht und wo sie begehren, können sie nicht lieben. Sigmund Freud war bezüglich dieses Aspekts seines Privatlebens diskret, er griff zur Selbstenthüllung nur, wenn sie seiner Sache half, strebte eher nach kultivierter Sublimierung der doch auch mit Beunruhigung betrachteten sexuellen Triebe - einer Beunruhigung, die natürlich auch durch die von körperfernen und homosexualitätsängstlichen Müttern erzogene und durch väterliche Übergriffe verletzte Töchter an ihre Liebhaber weitergegeben wird. Freud, der den damals wie heute grassierenden sexuellen Mißbrauch in der Kindheit als Ursache psychischer Erkrankungen anerkannte, später auch beunruhigenden sexuellen Phantasien eine pathogene Wirksamkeit zusprach - in beiden Fällen kann der intrapsychische Reizschutz traumatisch durchbrochen werden -, glaubte an Sublimierungs- und Kultivierungsanstrengungen als Ausweg aus den zerstörerischen Triebhaftigkeiten im Menschen. Das unvermeidliche Unbehagen in der Kultur basiert auf dem von der Zivilisation, stets aufs neue geforderten Verzicht auf unmittelbare Befriedigung libidinöser und aggressiver Bedürfnisse. Daß Freud Genuß an seiner Arbeit hatte, ist unbezweifelbar. Seine schöne und literarisch-verführerische Sprache, die so manche Unklarheit charmant kaschiert ohne zu verärgern, läßt deutlich erkennen, wieviel Libido hier sein Antrieb war. Er beschrieb den sexuellen Konflikt wie keiner vor und nach ihm. Er fürchtete, daß ein Mann, der "im Liebesleben wirklich frei und damit auch glücklich werden soll, den Respekt vor dem Weibe überwunden, sich mit der Vorstellung des Inzest mit Mutter oder Schwester befreundet haben muß. Wer sich dieser Anforderung gegenüber einer ernsthaften Selbstprüfung unterwirft, wird ohne Zweifel in sich finden, daß er den Sexualakt im Grunde doch als etwas Erniedrigendes beurteilt, was nicht nur leiblich befleckt und verunreinigt. Die Entstehung dieser Wertung, die er sich gewiß nicht gerne bekennt, wird er nur in jener Zeit seiner Jugend suchen können, in welcher seine sinnliche Strömung bereits stark entwickelt, ihre Befriedigung aber am fremden Objekt fast ebenso verboten war wie die am inzestuösen." An der Aufgabe, einzusehen, daß er trotz aller leidenschaftlicher und idealisierender Liebe zur Mutter ein für sie zu kleiner und niemals in Frage kommender Liebhaber ist, daß er Zorn und Enttäuschung überwinden und aus der körperlichen Liebe ein Zukunftsprojekt machen muß, bis er an einer zu ihm passenden Frau seine Ambivalenzen schlichten kann, scheitern laut Freud unzählige Männer wegen dieser ihrer "psychischen Impotenz". Die massenhaften Phänomene der sexuellen Männerwelt wie Perversionen, Pornographie, Prostitution, Pädophilien und sexuelle Gewalt gegen Kinder geben Freuds illusionslosem Blick recht. 

"Das Ich ist zuallererst ein körperliches" schrieb Freud - und bekräftigte damit die körperliche Repräsentanz eines jeden seelischen Ereignisses, - eine unauflösliche Verbindung, mit der sich heute die Neurobiologen wieder befassen, hundert Jahre nach Freud und ein später Triumph für ihn. (Für den Nobelpreis, den er zu Recht erhoffte, war er unter anderem sogar von Thomas Mann vorgeschlagen worden, aber er hat ihn nie bekommen.) Wenn eine emotionale Erschütterung keinen bewußten gedanklichen und affektiven Ausdruck finden kann, wird sie im Körper-Ich zurückgehalten und kann ein Organ "befallen" - eine psychosomatische Krankheit entsteht. Verleugnete und unverarbeitet gebliebene Trauer um erlittene Verluste, unbewußte Aggressionen und Schuldgefühle, verdrängte erregende Triebwünsche können zum unerkannten Inhalt von körperlichen Symptomen, von Schmerzen und Entzündungen werden. Auch Sigmund Freud war davor nicht gefeit. Die Liste seiner körperlichen Erkrankungen und auch die seiner neurotischen Symptome ist lang und wurde von ihm selbst freimütig in seinen vielen Briefen jeweils aktualisiert. 

Wir wissen, daß er bis ins neunte Lebensjahr ein Bettnässer war und auch noch als Erwachsener von Inkontinenz- und Ohnmachtsanfällen erschreckt wurde. Freud war häufig krank und eigentlich Zeit seines Lebens von Schmerzen geplagt. Oft spricht er von Herzrhythmusstörungen und Atemproblemen, von Depressivität und Todesangst, von Grippen, von Migräne, deren Ätiologie und periodisches Auftreten er mit seinem zeitweiligen und fachlich von ihm überschätzten Freund Wilhelm Fließ zusammen immer wieder kurios deutete; Magenschmerzen, Verdauungsstörungen, leichter Typhus, Angina und Pocken. Naseneiterungen mit zwei Operationen (inklusive Kunstfehler) durch Fließ, Prostatabeschwerden und Rheumatismus, heftige Krebsangst und schließlich dann wirklich Krebs am Gaumen, in der Mundhöhle, was im Laufe von vielen Operationen am Ende auch zur Entfernung eines Teils des Kieferknochens führte - Essen und Sprechen waren für ihn, auch durch die Kiefer-Prothese, nie mehr schmerzfrei. Zwischen 1923 und 1928 mußte er mehr als 350 mal seinen Chirurgen konsultieren. Und 1924 schreibt Freud zermürbt: "Das Richtige wäre, Arbeit und Verpflichtungen aufzugeben, und in einem stillen Winkel auf das natürliche Ende zu warten…". Das Rauchen von Zigarren, den "behaglich warme(n) Strom der Rauch-Milch", gab Freud, nach einigen fehlgeschlagenen halbherzigen Versuchen, trotz Einsichten und Todesangst aber nicht mehr auf. Die Angst vor Krankheiten war - damals noch mehr als heute - natürlich auch eine Realangst und nicht nur neurotisch-übertrieben: 1920 starb Freuds Lieblingstochter Sophie 27-jährig an Grippe, drei Jahre später ihr kleiner Sohn Heinele im Alter von vier Jahren ebenfalls. Der Verlust war ihm nicht zu verschmerzen und Freud beschrieb - dem Unerträglichen ein notdürftiges Gewand gebend: "Der Verlust eines Kindes scheint eine schwere narzißtische Kränkung; was Trauer ist, wird wohl erst nachkommen." 

Seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten, war vielleicht das zwingende Motiv, seelischen Schmerz in einen körperlichen zu verwandeln, mit dem er einigermaßen leben konnte. "Alles schön leis auf die dreitägige Migräne. Von diesem Bedauern abgesehen, gehört dieser Brief der Wissenschaft. (…) In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche, bei jenem Grad von Schmerzbelastung, der für meine Hirntätigkeit das Optimum herstellt, haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins. Es schien alles ineinanderzugreifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen. (…)Ich weiß mich vor Vergnügen natürlich nicht zu fassen." 

Freud arbeitete, wenn er nicht wirklich wegen Krankheit nicht konnte, täglich/nächtlich zwischen zehn und zwölf Stunden, unterbrochen durch Mahlzeiten im Familienkreis zu festen Zeiten. Seine Frau Martha und deren Schwester Minna führten den Haushalt. In der langjährigen Verlobungszeit mit Martha, die weit weg in Hamburg lebte und deren Mutter vom zukünftigen Schwiegersohn vor der Einwilligung zur Hochzeit erst den Beweis verlangte, daß seine finanziellen Mittel für eine Familiengründung ausreichen würden, schrieb Freud zärtliche und leidenschaftliche Briefe, gab ihr Erklärungen zu seiner wissenschaftlichen Arbeit und beteuerte seine grenzenlose Sehnsucht nach ihr. Die beiden bekamen sechs Kinder, und inwieweit Martha als seine Ehefrau noch Einblick und Interesse für seine Arbeit aufbringen konnte, wissen wir nicht; Minna ersetzte sie vielleicht als gelegentliche Gesprächspartnerin, später dann hatte Freud, der den intellektuellen Austausch mit Frauen und Kolleginnen suchte und schätzte, aber doch in der eigenen Familie eine Gesprächspartnerin gefunden: seine Tochter Anna. Heute gilt es als psychoanalytische Unmöglichkeit und inzestuöse Grenzverletzung, daß Freud seine Tochter schließlich auch selber analysierte - damals, in diesen kämpferischen und ehrgeizigen Pionierzeiten ging es in den psychoanalytischen Verhältnissen allerdings sowieso ziemlich bunt durcheinander, die Vater-Tochter-Analyse war genauso wenig ein Skandal wie die Mutter-Tochter-Analyse Melanie Kleins oder die "prophylaktischen" Analysen von Analytikerkindern durch Kollegen. Die Analysen waren eher kurz und theoriegeleitet, weniger affekt- und übertragungsorientiert als heutzutage. Es gab noch keine ‚Beziehungs-Psychologie'. Anna Freud machte sich als Analytikerin und Begründerin der Kinderanalyse selber einen großen Namen und enttäuschte die Erwartungen ihres Vaters nicht. Sie wurde seine Vertraute und Begleiterin, seine Nachfolgerin und Stellvertreterin, am Ende seine Krankenpflegerin. Geheiratet hat sie nie und Freud war bewußt, daß ihr Verzicht auf Ehe und Kinder ein Opfer an ihn und die Psychoanalyse war. 

Freuds Schwestern wurden in Konzentrationslagern der Nazis ermordet, er selber floh in letzter Minute mit Hilfe Marie Bonapartes, seiner ehemaligen Patientin und Schülerin, nach London. Seine Bücher waren in Deutschland und Österreich verbrannt worden, die Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft gebrandmarkt. "Die Behandlung durch die Gestapo kann ich wärmstens empfehlen" schrieb er nach einer Verhaftung durch die Geheimpolizei ironisch auf deren Geheiß, ihr, seinen Todfeinden, ‚korrektes Verhalten' zu attestieren. Erst als sein liebstes Kind Anna ebenfalls von der Gestapo zum Verhör geholt wurde, erkannte Freud, daß es Zeit war, das Gefängnis Wien zu verlassen, um jedenfalls "in Freiheit zu sterben". In London blieben Freud noch 15 Lebensmonate, die er nach außen stoisch gegenüber unerträglichen Schmerzen mit Arbeit an seinem Lebenswerk füllte. Wir können nur ahnen, welches Ausmaß an Trauer und Melancholie er mit sich nahm, als er im September 1939 mit Annas Einverständnis seinen Arzt Max Schur bat, ihn mit einer Überdosis Morphium vom Lebensleid zu befreien. Er starb 12 Jahre vor seiner Frau Martha.

Die Psychoanalyse wird als Heilmethode vom heutigen Zeitgeist manchmal in Frage gestellt - dauert sie nicht zu lange und sind, gemessen am Aufwand, ihre Heilerfolge nicht zweifelhaft? Es gibt einen Witz, der das zum Thema hat, der, so falsch er inhaltlich ist, doch einen zentralen Aspekt der Wirkweise einer analytischen Kur thematisiert: Ein Mann, der wegen Bettnässens einen Psychoanalytiker aufsucht, trifft nach vielen Jahren der Behandlung einen Freund wieder. ‚Na, machst du jetzt nicht mehr ins Bett?' fragt der ihn. ‚Doch, doch, ich mach schon noch ins Bett', antwortet er, ‚aber es kränkt mich nicht mehr'. Die gelingende Psychoanalyse gibt sich nicht zufrieden mit der bloßen Befreiung vom Symptom - wiewohl das selbstverständlich auch ihr Ziel ist und sein muß -, sie erreicht vielmehr auch die Toleranz nach innen, die Versöhnung mit dem zweifelvollen Selbst, den selbstironischen und melancholischen Blick auf unsere Fehler, Schwächen und Enttäuschungen - bekanntlich die Bedingung, um dem Fremden in uns und in Anderen mit Neugier und Gnade zu begegnen und die Grenzen innen und außen dort zu ziehen, wo sie hingehören.

Juli 2006

* Autorin: Ann-Kathrin Scheerer, Diplom-Psychologin, niedergelassene Psychoanalytikerin in Hamburg