Gerd Schmithüsen: Psychoanalytische Behandlung - Raum und Zeit geben

Die Idee zu diesen Überlegungen kam mir bei der Lektüre eines Zeitungsartikels von Gabriele Dietrich in der FAZ vom 2.3.05. Die Autorin schildert auf beeindruckende und erfrischend provokative Weise ihre Sicht dessen, was Kinder zu einem guten Gedeihen unbedingt benötigen. Was allerdings in einer Zeit der zunehmenden Beschleunigung, der knappen Mittel und einer allenthalben geforderten Flexibilisierung zunehmend zur Mangelware wird.

Kinder benötigen Beziehung und über die Sinne vermittelten Kontakt zu ihrer Umgebung. Sie benötigen erwachsene Menschen - unter günstigen Umständen ihre Eltern - die ausreichend Zeit für sie haben. Erwachsene, die einen sicheren Rahmen bieten können und sich innerhalb dieses sicheren Rahmens auf das Spielen mit Kindern einlassen können. Also Erwachsene, die sich trauen, das Kind in sich in der Begegnung mit Kindern lebendig werden zu lassen. Erwachsene, die träumen können, ohne jedoch den Kontakt zur Realität zu verlieren. Kinder brauchen Erwachsene, die neugierig sein können und staunen. Die zuhören können und die Geschenke, die Kinder dann machen können, wenn sie sich zeigen, zu schätzen wissen. Erwachsene, die ihre eigenen Bedürfnisse zumindest eine zeitlang - das kann lang sein - zurückstellen können. 
Auf dem Nährboden solcherart Beziehungserfahrung in ausreichender Wiederholung in der Zeit können Kinder sie selbst werden und nicht der Abklatsch von Erwartungen, die an sie - ausgesprochen oder nicht - gestellt werden. Es ist diese Erfahrung, die ihnen den Mut gibt sich auf eigene Weise auszuprobieren, sich zu entwickeln, sie selbst zu werden, über sich selbst hinauszuwachsen und im besten Sinne, erwachsen zu werden.

Ich möchte das zunächst mit einem Beispiel veranschaulichen. Diese Erfahrung danke ich meinem jüngsten Sohn, dessen Erlaubnis ich bekommen habe, davon zu berichten.

Vor Jahren, er war 6 Jahre alt, waren wir mit einem Kajak zwischen den Buhnen auf dem Rhein unterwegs. Max - schon damals ein ausgezeichneter Schwimmer - lag bäuchlings mit Schwimmweste und Badehose bekleidet auf der Spitze des Bootes und bat mich, auf den Fluss hinaus zum anderen Ufer zu paddeln. Auf meine Bitte, zu mir ins Innere des Bootes zu kommen, meinte er, das könne er immer noch machen, wenn er Angst bekomme. Als wir in der Mitte des Flusses waren, sagte er, er wolle zum Ufer zurückzukehren, er habe Angst. Der Fluss sei breiter, als er gedacht habe. Ich schlug ihm zunächst vor, zu mir ins Boot zu kommen und sich wegen der räumlichen Enge auf meinen Schoß zu setzen, was er tat. Dann regte ich an, den Fluss wie geplant mit dem Kajak zu überqueren, weil es bis zur anderen Seite ebenso weit war wie zum Ufer, von dem aus wir gestartet waren. Nach kurzem Überlegen willigte er ein. Am anderen Ufer angekommen war er stolz, seine Angst überwunden zu haben und zugleich beeindruckt von der Breite des Stromes. Beim Zurückpaddeln, das er jetzt inklusive des Schaukelns auf den Wellen entspannt genoss erzählte er mir etwas, das mich tief beeindruckte und von dem ich beschloss, es zu hause meiner Frau zu berichten.

In Maxens Anwesenheit erzählte ich ihr von dem Ereignis und sagte: "Du, dann hat er mir gesagt: ‚Papa, als ich bei Dir im Boot auf Deinem Schoß saß, da hast Du mir die Angst genommen.'"

Darauf schaltete sich Max ein und entgegnete: "Nein Papa, das hast du falsch erzählt. Ich habe nicht gesagt, ‚Du hast mir die Angst genommen.' Sondern ‚Du hast mir Mut gegeben.'"

Zunächst dachte ich: Besserwisser, der Du bist. Musst aber auch immer bei der Mama mit mir rivalisieren. Dann erst fiel mir die Tragweite dessen auf, was er gesagt hatte. Und der Bedeutungsunterschied, den ich zwar auf dem Fluss korrekt erfasst hatte und davon so beeindruckt war, dass ich es unbedingt meiner Frau erzählen wollte. Jedoch in meiner Erzählung dann den Akzent drastisch verschoben hatte.

Hätte ich ihm "die Angst genommen", so würde ich ihm vielleicht gesagt haben, er brauche sich nicht zu fürchten, die Überfahrt sei schließlich nicht gefährlich. Oder: ich selbst hätte doch auch keine Angst. Oder ich sei ein erfahrener Kanute und er ein guter Schwimmer, trage eine Schwimmweste und es seien weit und breit keine Lastkähne auf dem Strom. Diese durchaus zutreffenden und vernünftigen Erklärungen hätten möglicherweise ihre Wirkung nicht verfehlt und er hätte die Angst "verloren", eventuell in Anpassung an meine - von ihm vermutete - Erwartung an ihn oder aber aus "Überzeugung" in meine Urteilsfähigkeit. Inwieweit das von Dauer gewesen wäre, lässt sich nur vermuten. Ich persönlich bezweifle die Dauerhaftigkeit eines solchen Vorgehens.

Worauf Max mich mit der Korrektur meiner Äußerung hinwies war, dass ich ihm nicht etwas - dazu auch noch Lebensnotwendiges - genommen hatte, nämlich seine - durchaus verständliche - Angst, sondern dass ich ihm etwas - ebenso Lebensnotwendiges - gegeben hatte, nämlich Mut.

Wie war das vor sich gegangen?

Zunächst hatte ich ihm etwas anscheinend Naheliegendes und Simples angeboten, nämlich zu mir, in meine körperliche Nähe zu kommen. Aus Platzgründen war das im Kajak nur auf meinem Schoss möglich. Dadurch kam er in Körperkontakt mit mir, konnte meine - auch körperliche - Präsenz, Sicherheit und Ruhe spüren, ohne dass ich ihm das über Worte versichern musste. Von diesem - aufgrund seiner bisherigen Lebenserfahrung für sein Unbewusstes - sicheren Ort aus konnte er dann das, was ihn ängstigte, nämlich die ihn überraschende Breite des Flusses, selbst in Augenschein nehmen und dabei von meiner Sicherheit und Erfahrung - indem er sich vermutlich mit dieser Seite in mir identifizierte - profitieren, ohne sich klein oder unterlegen fühlen zu müssen. Mein "Mut" im Sinne meiner Erfahrung und Sicherheit im Umgang mit meinem Kajak und dem Fluss teilte sich ihm ohne Worte mit, und er nahm dieses Erleben sozusagen in sein Inneres auf. Das meinte er vermutlich auch mit dem "gegeben". Ich hatte ihm eine Form von Beziehungsangebot gegeben, das ihm die Möglichkeit eröffnete, Zuversicht zu empfinden, was die Möglichkeit anging, den Fluss unbeschadet zu überqueren. Deshalb sprach er davon, ich hätte ihm Mut gegeben als etwas, das er in sich hinein genommen hatte und auf das er im Weiteren - bei ausreichend günstiger Erfahrung in der Zeit - zurückgreifen kann.

Auf der Basis solcher Erfahrungsmöglichkeiten entfalten Kinder ein Erleben, das ein britischer Kollege, Donald Winnicott, einmal "wahres Selbst" genannt hat. Damit meinte er so etwas wie ein inneres Erleben von "das bin ich, das macht mich im Innersten aus, so möchte ich gesehen, anerkannt und respektiert werden". Also ein Erleben von Authentizität. Auf diese Weise finden sie ihre eigenen Vorstellungen, ihre eigenen Worte, ihre eigene Sprache und ein Erleben von: "Das bin ich." Diese Erfahrungsmöglichkeiten geben ihnen eine sichere Basis, auf der sie sich bewegen können und die sie sozusagen als inneres Basislager für weiterführende Erkundungen nutzen können. So hat z.B. Max in einem Sommerurlaub vier Jahre später den oben beschriebenen Kajak selber über 250 km die Loire heruntergepaddelt - seine Eltern im Kanadier vor, hinter oder neben sich - und dabei durch manch schwierige Stromschnelle gebracht.

Es ist nun eben genau die in dem Beispiel angedeutete Form von Beziehungsangebot, das wir auch unseren Patienten in Psychoanalysen oder von der Psychoanalyse abgeleiteten Behandlungsformen anbieten. Als Psychoanalytiker nehmen wir ihnen in erster Linie nicht ihre Symptome, sondern geben ihnen etwas, das sie benutzen können wie mein Sohn meinen sicheren Schoß. Nämlich eine verlässliche, über eine lange Zeit stabile und berechenbare Beziehung zu einem nicht wertenden, einem freundlichen, verständnisvollen Gegenüber an einem konstanten, sicheren und störungsfreien Ort. Dieser Ort, der Schoß gewissermaßen, das ist entweder ein Sessel oder die Couch in einem störungsfreien, intimen Raum in Anwesenheit eines aufmerksamen, um Verständnis auf einer unbewussten Ebene bemühten Zuhörers. Eine Beziehung, die unsere Patienten so lange nutzen können, wie sie das benötigen und die Kasse oder sie selbst das zahlen. Bis sie ihre Symptome allmählich aufgeben können, weil diese in ihrer Sicherheit, Halt und Stabilität gebenden Funktion nicht mehr benötigt werden. In der Regel dauert eine solche Beziehung real mehrere Jahre bei regelmäßig (zwischen einer und fünf Stunden pro Woche) stattfindenden Sitzungen. Ein solches Angebot mag in der heutigen Zeit lang und aufwendig, vielleicht luxuriös erscheinen. In einer Zeit, in der Kinder immer häufiger "zu Gegenständen, die angeschafft werden und dann funktionstüchtig erhalten werden müssen wie eine Küchenmaschine: Oben kommt etwas rein, unten kommt etwas raus, und zwischendurch sollten sie etwas eingeölt werden." (Karin Dietrich in FAZ 2.3.05) Doch sollte man bedenken, wie viel Zeit kleine Kinder benötigen, um ein sicheres Gefühl von sich und der Welt, die sie umgibt, zu entwickeln. Es dauert bei günstigen Bedingungen mindestens drei Jahre, bis die Ansätze einer Basis hierfür geschaffen sind. Analytiker bezeichnen dieses Phänomen, nämlich das Erleben eines sicheren inneren Kerns und einer mehr oder weniger berechenbaren, verlässlichen Umwelt als Objektkonstanz.

Wir leben in einer Zeit der Mängelverwaltung und der knappen Mittel: Zeitmangel, Platz- und Raummangel, Geldmangel, Phantasiemangel, Mangel an Geduld, Mangel an Erfahrungsraum. Es geht mir nicht darum, Eltern Vorwürfe zu machen, die aus welchen Gründen immer zu wenig Zeit für ihre Kinder erübrigen können. Ich möchte nur die Tatsache betonen, dass Kinder - wie unsere Patienten - Lebewesen sind, die Beziehung, Bindung und Bezogenheit, Konstanz und Sicherheit benötigen wie Pflanzen Nährstoffe, Wasser und Wärme brauchen, um sich zu entfalten.

"Je kleiner Kinder sind, desto weniger können sie mit Erklärungen anfangen. Aber sie nehmen Berührungen auf, Wärme, Zärtlichkeit, Bewegung, Rhythmus, Melodien. Lange, bevor sie sprechen können, sind sie emotional erreichbar mit einer unendlichen Fülle von Möglichkeiten. Die Stimmen, die sie schon als Ungeborene gehört haben, bekommen Gesichter. Es gibt Nähe und Distanz, das gegenseitige Imitieren der Mimik, Gurren und Lachen und Weinen, laut und leise, Greifen, Sich-Wehren, Sich-Anschmiegen. Man spürt das langsam wachsende Gefühl von Identität im Kind an den ersten Wortbildungen und den lustvoll und herausfordernd immer wieder abgefragten Wiederholungen der Spiele, denn nur das Vertraute schenkt ihm Sicherheit. Irgendwann fühlt es sich sicher genug. Dann wendet es sich fremden Menschen zu, um das Gelernte an ihnen auszuprobieren. Im Heranwachsen eines Kindes gibt es immer wieder diese Momente, wo es loslassen will und weitergehen. Die gilt es zu erkennen, denn dann brauchen sie jemanden, der sie ermutigt. Der bester Erzieher ist der, der sich nach und nach überflüssig macht." (Karin Dietrich in FAZ vom 2.3.05)

Diese Sichtweise gilt in gleicher Weise für Psychoanalysen. Menschen, die wegen seelischer oder psychosomatischer Probleme in die Sprechstunde des Analytikers kommen, leiden in aller Regel unter einem gravierenden Mangel an Selbstwertgefühl, Mut, Zuversicht, Bezogenheit, Verbindung zu sich, ihrer inneren Welt, vor allem ihren Gefühlen - hier speziell den sogenannten negativen Gefühlen wie Wut, Haß, Neid, Gier - und einem Mangel an Verbindung zu ihren Mitmenschen. Nur auf der Basis einer sicheren, nicht ent-wertenden, um Verstehen bemühten Beziehung haben diese Patienten die Möglichkeit, eigene Bilder, eigene Vorstellungen und eigene Worte zu finden. Und sich nicht an - eventuell auch nur vorgestellte - Erwartungen anzupassen. Das ist kein Luxus, wie uns unsere alltägliche analytische Praxis zeigt, sondern unabdingbare Notwenigkeit, um seelisch und körperlich gesund zu bleiben. Um ein eigenständiges, kreatives und lebendiges Menschenkind zu werden, wieder zu werden und zu bleiben. Letzen Endes um es riskieren zu können, lebendige Erfahrungen und das heißt auch Fehler machen zu können und aus den gemachten Erfahrungen zu lernen.

Ich möchte nochmals an einem Beispiel veranschaulichen, was ich damit meine, eigene unverbrauchte Worte und Bilder zu finden und diesen Worten und Bildern Raum und Zeit zur Entfaltung zu geben. Mit 8 Jahren bat mich der schon erwähnte Max, einen Aufsatz zu schreiben zum Thema: "Wozu ist das Leben gut." Es war eine Frage, die ihn zu beschäftigen und auf die er Antworten zu suchen schien. Es gelang mir, ihn dazu zu ermutigen, seine eigenen Antworten zu finden. Während eines Frühjahrsurlaubs schrieb ich seine Gedanken, die er mir im Gespräch mitteilte, abends am Kamin unseres Ferienhauses im Verlauf einer Woche in den Laptop. Seine Antworten haben Vortragsform, weil er damals die Vorstellung hatte, seine Ideen einem Publikum mitzuteilen. Er hat das nach dem Urlaub dann auch in Form eines Referates in seiner Schulklasse getan. Diese Ideen eines achtjährigen Jungen möchte ich hier unkommentiert anführen, um zu zeigen, dass es möglich - und notwendig - ist, eigene und kreative Antworten auf die schwierige Frage nach dem Weg zu einer authentischen eigenen Lebendigkeit und Erfahrung zu finden.

"Und manchmal im Bett, wenn ich denke, der Tag war viel zu kurz, da plagt mich die Frage, wozu ist das Leben gut?

Ich weiß, es kommt aus jedem Mund eine andere Antwort. Aber ich denke: damit die Welt kein Stern ohne regelnde Lebewesen ist. Am Ende werde ich vielleicht fragen, wie die anderen, die sich diese Frage stellen, Antworten finden. Zum Beispiel, wie meine Mutter mir gesagt hat: Das Leben ist auch dazu gut, dass man Kinder hat. 
Das Leben ist auch dazu gut, dass man Spaß hat und fröhlich ist. Dass die Welt von Lachen aber auch von Weinen erfüllt ist. Weil ohne Traurigkeit ein Leben kein richtiges Leben wäre. Weil traurig sein gehört dazu. Aber auch Unglück und Glück gehören zum Leben. 
Zum Beispiel wenn man ein Ferienhaus zum ersten Mal gesehen hat und fröhlich sein will, aber es einem nicht gelingt, weil man Heimweh hat. Oder wenn man glücklich ist, weil man die Erforschung einer Höhle gut überstanden hat. Und sich dann ziemlich weh tut und weint. So kommt das eine zum anderen. So blitzschnell, dass man gar nicht mitkommt.

Tja, so ein Lachen, wie ich es gerade gelacht habe, als mein Vater sich verschrieben hat, das ist Gold wert. Das kommt so glucksend tief aus meiner Kehle, ich kann gar nicht anders als zu lachen und das fühlt sich richtig toll an. 
Erst hat man Übermut und dann Angst: Wenn du erst auf einen hohen Felsen geklettert bist voll guter Laune und Übermut, und nachher nicht wieder runter willst, findest du es bestimmt blöd, dass du erst gedacht hast, du schaffst das mit links. Weil wenn du dann Angst kriegst, wenn du runter guckst und siehst wie tief das aussieht, dann würdest du dich am liebsten zurückziehen und am liebsten gar nicht mehr runter gehen. Und wenn du es aber trotzdem geschafft hast, bist du total stolz auf dich.

Im Leben muss man sich sehr viel verändern; man muss in die Schule gehen, um sein Leben gut zu machen und das Leben ist dann mit einem Sprung von vier Jahren verändert worden, weil man mehr Gedanken im Kopf hat. Ich finde, ein weiterer Vorschlag wäre, wozu das Leben gut ist, dass man in die Welt Kultur bringt. Ich meine damit, dass man über die Welt mehr erfährt, vom früheren Leben und vom noch viel früheren Leben. Dann versteht man mehr über die frühere Zeit und die frühere Welt. Aber vielleicht auch mehr über die Gegenwart.

Heute Morgen beim Frühstück fiel mir ein, dass man auch Beispiele schreiben könnte, wozu das Leben auf jeden Fall nicht gut ist. Zum Beispiel von einem Hochhausdach zu springen! Das wäre ganz schön blöd, weil dann das Leben weg wäre. Oder im Zoo zu den Löwen zu springen. Weil dann die Löwen dich fressen würden. Aber noch blöder ist es, wenn du diese beiden Beispiele als neugeborenes Kleinkind machen würdest. Da hättest du ja fast gar nix vom Leben.

Es könnte auch so sein, dass man erst denkt, der Weg ist viel zu lang. Und wenn man ihn geschafft hat weiß man, er war doch nicht so schlimm. Solch eine Erfahrung hab ich heute gemacht.
Man könnte auch sagen, dass das Leben so viele Veränderungen hat wie Körner im Sand. Es bleibt nichts wie es ist und jeden Tag verändert sich etwas. Die Welt ändert sich millisekündlich. Und man muss lernen, damit klar zu kommen. Aber das ist gar nicht so einfach. 
Wenn man größer wird, geht es manchmal so, dass Sie in einer Höhle als kleineres Kind einfach durch einen Felsvorsprung gekommen sind. Aber als größerer Junge oder Mädchen sich stoßen. Sie haben es doch bestimmt schon einmal erlebt, daß Sie sich früher ohne Ihre Eltern irgendwo nicht hingetraut haben. Aber nach ein bis zwei Jahren es sich dann doch trauen. So haben Sie Mut geschöpft."

Damit Kinder sich trauen können, ihre eigenen Antworten auf Fragen zu finden, die sie beschäftigen, manchmal auch quälen, brauchen sie Raum und Zeit, Sicherheit und Interesse.
Kinder sind eben keine Küchenmaschinen. Es ist nicht damit getan, sie mechanisch zu versorgen. Sie zu füttern (oben etwas hineinzutun, Nahrung, Zuwendung, Information), damit unten etwas hinauskommt (Leistung, Selbstständigkeit, Funktionieren) und sie in der Mitte zu ölen, damit sie nicht quietschen und - störende - Symptome entwickeln (wund werden). Kinder benötigen sehr viel mehr. Sie benötigen uns als ganze Person mit allem, was uns ausmacht, was wir sind. Kinder benötigen das Beste, was wir ihnen geben können. Und jede Menge unserer Zeit. Das macht das Zusammensein mit Kindern nicht leicht. Allerdings bedeutet ein Zusammensein mit Kindern auf diese Weise eine Herausforderung für jeden, der sich dieser Aufgabe stellt, die ihn in seiner ganzen Existenz herausfordert.

Und das gilt im gleichen Maße für die Arbeit eines Psychoanalytikers mit seinen Patienten. Deshalb ist diese Arbeit schwer, verantwortungsvoll und fordert spezifische Opfer. Allerdings ist der Gewinn aus dieser Arbeit in nicht materieller Hinsicht sehr reichlich. In der Auseinandersetzung mit unseren Kindern und auch mit unseren Patienten kommen wir uns selbst näher. Wir lernen uns in jeder Hinsicht besser kennen, unsere Kreativität, unsere Geduld, Leidensfähigkeit, Fähigkeit zu Rücksichtnahme und Verzicht, Neugierde, Angsttoleranz, Zuversicht. Wir benötigen Geduld und die Bereitschaft, in die Entwicklungsmöglichkeiten sowohl unserer Kinder als auch unserer Patienten zu vertrauen. Unsere Erreichbarkeit, Berechenbarkeit und emotionale Präsenz sind gefordert.

Kinder - und auch unsere Patienten, mit denen wir in unseren Praxen oder Kliniken zusammenarbeiten - fordern uns heraus, das Beste von uns zu geben. Das macht für mich den Reiz dieser Aufgabe aus, samt der Anstrengung, Geduld, Verunsicherung und manchmal auch Angst, die damit oft verbunden ist. Denn all das ermöglicht jenen, die sich dieser Herausforderung stellen, auch selbst lebendig zu bleiben und zu wachsen.

Ich zitiere noch einmal Frau Dietrich: "Wer seinen Kindern beim Spielen zuschaut, schaut sich selbst zu, … Wem es gelingt, das eigene Verhalten so zu ändern, dass es des Nachahmens wert ist, hat für sich selbst etwas dazu bekommen. Kinder erziehen einen schon allein dadurch, dass sie selten so sind, wie man gedacht hat, dass sie seien. Das kann eine sehr heilsame Erfahrung sein, die sich in Selbsterkenntnis verwandeln lässt. Vermutlich ist ein Kind erst dann wirklich zu verstehen, wenn man sich selbst verstanden hat."

Juni 2007
* Autor: Gerd Schmithüsen, Diplom-Psychologe, Lehranalytiker, niedergelassener Psychoanalytiker in Köln